* 3 *

3. Der schwarze Index

 

Merrin

Aus seinem Geheimversteck unter der Matratze zog Merrin ein schmales, in Leder gebundenes und mit Eselsohren verunziertes Buch hervor, auf dessen Deckel in verblassten schwarzen Lettern Der schwarze Index stand. Er grinste. Endlich konnte er darin lesen, ohne es vor dem Schnüffler Simon Heap und der lästigen Lucy verstecken zu müssen. Sie war noch schlimmer als er. Den lieben langen Tag fragte sie ihn Sachen wie »Was tust du, Merrin?« oder »Was liest du denn da, Merrin? Zeig mal. Ach komm, Merrin, sei doch nicht gleich eingeschnappt«.

Seit er das Buch hinten in einem verstaubten Schrank, den er auf Simons Geheiß entrümpeln und putzen sollte, gefunden hatte, war er davon gefesselt. Der schwarze Index sprach ihm aus dem Herzen. Er begriff seine Zauberformeln und Regeln, und ganz besonders gefiel ihm der Teil, der davon handelte, wie man die Regeln brach. Das Buch hatte jemand geschrieben, den Merrin verstand.

In seiner kleinen Zelle, die mit einem Vorhang vom Observatorium abgetrennt war (denn Jenna hatte die Tür einst in Schokolade verwandelt), hatte er oft stundenlang unter der Bettdecke beim Schein einer Glühraupenlampe gelesen. Einmal hatte Simon das Licht bemerkt und ihn damit aufgezogen, dass er sich im Dunkeln fürchte, doch im Unterschied zu sonst hatte sich Merrin nicht von ihm reizen lassen. Ihm war daran gelegen, dass Simon sich nicht weiter um das Licht kümmerte, das bis in die frühen Morgenstunden brannte. Sollte Simon doch glauben, was er wollte. Eines Tages würde er schon dahinterkommen, dass er, Merrin, keine Angst vor der Dunkelheit hatte – oder vor Schwarzer Magie.

Jetzt entzündete Merrin alle Kerzen, die er finden konnte – Simon knauserte mit Kerzen und duldete nicht, dass mehrere gleichzeitig brannten –, und verteilte sie im weiten Rund des Observatoriums. Das Halbdunkel, in das die Rollos den Raum getaucht hatten, wich warmem Kerzenlicht. Merrin redete sich ein, er tue das nur, weil er Licht zum Lesen brauche. Aber ein wenig hatte Simon schon recht: Er mochte die Dunkelheit nicht, schon gar nicht, wenn er allein war.

Merrin beschloss, es sich ein wenig gemütlich zu machen. Er ging in die kleine Küche und suchte die restlichen Pasteten zusammen, die Lucy gebacken hatte. Er fand zwei mit Fleisch und Niere, eine mit Huhn und Pilzen und eine zermatschte Apfeltasche. Dann goss er sich einen großen Becher von Simons Apfelmost ein, stellte alles auf den kleinen Tisch neben seinem schmalen Bett mit der klumpigen Matratze und legte ein paar muffig schmeckende Stücke von der Schokoladentür dazu, die er in einer schmutzigen Ecke unter dem Bett gefunden hatte. Zu guter Letzt holte er die dicke Wolldecke von Simons Bett. Er fror nicht gern, tat es hier aber meistens, weil im Observatorium, das tief in das Schiefergestein gehauen war, immer eine eisige Kälte herrschte.

Er freute sich darauf, den ganzen Tag nur das zu tun, wozu er Lust hatte. Er wickelte sich in die Decke, legte sich auf das Bett, ohne vorher die Schuhe auszuziehen, und fiel über seinen Essensberg her. Am späten Vormittag lag Merrins Buch auf dem Boden, und er selbst schlief tief und fest inmitten von Pastetenkrümeln, schimmligen Schokoladenklumpen und verschmähten Nierenstücken. Seit Simon ihm erklärt hatte, was Nieren eigentlich taten, ekelte er sich davor.

Nacheinander brannten alle Kerzen im Observatorium herunter, doch Merrin schlief weiter, bis das Zischen der letzten erlöschenden Kerze ihn aus dem Schlaf riss. Panische Angst ergriff ihn. Die Nacht war hereingebrochen. Es war stockfinster, und er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Er sprang aus dem Bett und stieß gegen den Türpfosten. Im Zurücktaumeln bemerkte er einen dünnen Mondstrahl, der durch einen Schlitz zwischen den Rollos drang und auf die weiße Scheibe der Camera obscura fiel. Wieder etwas ruhiger, zog er seine Zunderbüchse hervor und zündete frische Kerzen an. Bald erstrahlte das Observatorium wieder in warmem Kerzenlicht und verströmte fast einen Hauch von Behaglichkeit. Doch was Merrin nun plante, hatte mit Gemütlichkeit so wenig zu tun, wie man sich nur vorstellen konnte.

Er hob den Schwarzen Index vom Boden auf und schlug die letzte Seite auf, deren Überschrift lautete:

Wie man mit der Macht des doppelgesichtigen Ringes
das Schicksal eines anderen verdunkelt
oder seinen Feind zugrunde richtet.
Eine bewährte und vom Verfasser
mit großem Erfolg angewandte Methode.

Merrin kannte diesen Abschnitt auswendig, aber er hatte noch nie weitergelesen, denn in der nächsten Zeile stand:

Lies nicht weiter, eh du zum Handeln bereit,
Sonst droht dir Unheil noch vor der Zeit.

Merrin schluckte. Jetzt war er zum Handeln bereit. Er hatte ein trockenes Gefühl im Mund und leckte sich die Lippen. Sie schmeckten unangenehm nach alter Pastete. Er holte sich ein Glas Wasser, trank es in einem Zug leer und fragte sich, ob er die ganze Sache nicht lieber auf morgen Abend verschieben sollte. Doch die Aussicht auf einen weiteren trostlosen Tag allein im Observatorium war wenig verlockend. Außerdem konnten Simon und Lucy jederzeit zurückkommen. Nein, er musste es jetzt tun. Und so las er mit einem mulmigen Gefühl im Magen weiter:

Zuvörderst beschwörst du dein Helfergespenst.

Merrins Herz begann zu klopfen. Das Helfergespenst beschwören! Das hatte nicht einmal Simon gewagt. Doch nun, da er angefangen hatte, hatte er nicht den Mut, wieder aufzuhören. Die Buchseite war unten so nach innen gefaltet, dass sie eine Tasche bildete. In diese Tasche griff er nun hinein und zog so vorsichtig, als hole er eine besonders giftige Spinne aus ihrem Versteck, den Charm hervor, den er für die Beschwörung benötigte. Der Charm war ein oblatendünner schwarzer Diamant und fühlte sich kalt an wie Eis. Der Anweisung folgend, hielt Merrin den Diamanten an sein Herz, und während die Kälte des Steins sich tief in seine Brust senkte, sprach er die Beschwörungsformel. Doch nichts geschah. Kein Windstoß, kein Knistern in der Luft, keine huschenden Schatten, nichts. Die Kerzen brannten ruhig weiter, und das Observatorium erschien ihm so leer wie immer. Merrin versuchte es noch einmal. Wieder nichts.

Ein schrecklicher Verdacht beschlich ihn – es stimmte, er war wirklich dumm. Wieder las er die Worte, langsam diesmal. Doch abermals geschah nichts. Er wiederholte die Worte immer wieder, überzeugt, dass er etwas übersehen hatte, irgendetwas Offensichtliches, das jeder halbwegs vernünftige Mensch sofort bemerkt hätte. Aber es erschien kein Gespenst, kein gar nichts. Jetzt wurde er zornig und brüllte die Zauberformel – nichts. Er flüsterte sie, sprach sie in flehentlichem, dann in schmeichelndem Ton, und in seiner Verzweiflung schrie er sie rückwärts. Alles ohne den geringsten Erfolg. Erschöpft und enttäuscht sank er zu Boden. Er hatte alles versucht, was ihm eingefallen war, und nichts hatte geklappt – wie üblich.

Was Merrin nicht ahnte: Seine Beschwörungen hatten sehr wohl funktioniert, und zwar jede einzelne. Das Observatorium wimmelte jetzt förmlich von Gespenstern. Das Dumme war nur, dass er sie nicht sehen konnte.

Gespenster waren im Allgemeinen unsichtbar, und das war auch gut so, denn sie boten keinen schönen Anblick. Die meisten hatten eine menschenähnliche Gestalt, freilich keine eindeutig männliche oder weibliche. Für gewöhnlich waren sie groß, dürr und klapprig wie ein Gerippe, und ihre Kleider waren nichts weiter als schwarze Lumpen. In ihren Gesichtern lag Trauer und manchmal Verzweiflung, hinter der sich tiefe Bosheit verbarg, sodass empfindsame Seelen, die das Pech hatten, ihrem Blick zu begegnen, danach noch wochenlang todunglücklich waren. Merrin hatte eine Tante Edna, auf die diese Beschreibung genau zutraf. Er kannte Tante Edna nicht, und dennoch hätte er sie leicht von jedem Gespenst unterscheiden können, denn Gespenster sahen immer tot aus.

Jetzt las Merrin den zweiten Teil der Anweisungen:

Nun sprich zu dem Gespenst.
Verlange, dass es sichtbar werde
Und sich dir zeige auf der Erde.

»Iiiih!«, schrie Merrin, der mit einem Schlag begriff, was geschehen war. Wutentbrannt pfefferte er das Buch an die Wand. Woher sollte er wissen, dass Gespenster unsichtbar waren? Warum hatte das nicht schon weiter vorne in dem Buch gestanden?

Eine halbe Stunde später hatte er sich wieder beruhigt. Er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als weiterzumachen, und so hob er das Buch auf, schlug es an der zerknitterten Seite auf und ging daran, die Anweisungen auszuführen. Er sprach den Sichtbarkeitszauber, schloss die Augen und zählte bis dreizehn. Dann schlug er mit einem beklommenen Gefühl die Augen wieder auf – und schrie erneut.

Er war von Gespenstern umringt. Sechsundzwanzig Gespenster sahen ihn gekränkt und vorwurfsvoll an, als wollten sie sagen: »Warum hast du nicht mich allein gerufen? Bin ich dir etwa nicht gut genug?« Sie bewegten die Lippen, murmelten und stöhnten, gaben sonst aber keinen Laut von sich. Sie waren viel größer als er und blickten so durchdringend auf ihn herab, dass er, obwohl er nicht gerade als empfindsam galt, tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen spürte. Wieder einmal ging alles gründlich schief, sagte er sich. Simon hatte recht, alle hatten recht. Er war dumm. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er musste weitermachen, sonst drohte ihm Unheil, wie es in dem Buch hieß. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen las er die nächste Anweisung:

Nun nimm das Gespenst
und begebe dich Auf die Suche nach dem Ring mit dem Doppelgesicht.

Merrin bekam einen Schreck, als er die Worte las: Ring mit dem Doppelgesicht. Dieser Ring verursachte ihm bis heute Albträume.

Ein paar Monate war es jetzt her, dass Simon schlecht gelaunt im Observatorium aufgeräumt und sich laut über die Unordentlichkeit seines Gehilfen beklagt hatte. Merrin selbst hatte sich in der Speisekammer versteckt und vertilgte gerade still und leise einen Geheimvorrat kalter Würstchen, als er Simon plötzlich aufschreien hörte. Beinahe wäre ihm der Bissen im Hals stecken geblieben – Simon schrie sonst nie. Nach Atem ringend und hustend stürzte er ins Observatorium, und dort bot sich ihm ein wahrhaft furchterregender Anblick: Ein Haufen Knochen, die wie aus Gummi aussahen und von schwarzem Schleim glänzten, verfolgte Simon langsam staksend durch das Observatorium. Einen Müllsack wie einen Schutzschild vor sich hinhaltend, wich Simon vor ihm zurück, einen Ausdruck tiefsten Entsetzens im Gesicht.

Merrin wusste sofort, wem die Knochen gehörten – seinem alten Meister DomDaniel. Es war der Ring, der es ihm verriet. Der klobige, doppelgesichtige Ring aus Jade und Gold, den DomDaniel stets am Daumen getragen hatte, stach leuchtend von den schwarz glänzenden Knochen ab. »Dieser Ring«, hatte DomDaniel einmal zu ihm gesagt, »ist unvergänglich. Wer ihn trägt, ist unsterblich. Ich trage ihn, also bin ich unsterblich. Denk immer daran, Junge!« Er hatte gelacht und mit seinem dicken rosigen Daumen vor Merrins Gesicht herumgewackelt.

Merrin beobachtete, wie der Haufen Knochen den entsetzten Simon in die Enge trieb. Er lauschte. Aus dem Innern des Haufens drang ein eintöniger Vernichtungsgesang, der direkt gegen Simon gerichtet war. Am liebsten hätte sich Merrin sofort zu einer Kugel zusammengerollt, ohne dass er wusste, warum. Zu seinem Glück erinnerte er sich nicht an jenen Tag in den Marram-Marschen, an dem DomDaniel genau denselben Gesang gegen ihn gerichtet hatte.

Während der Gesang sich unerbittlich seinem Ende zuneigte – bei dem Simon wie ein Schatten vergehen würde –, sah Merrin, wie mit Simon Heap eine Veränderung vor sich ging. Aber nicht die von DomDaniel beabsichtigte. Plötzlich wich die Angst in Simons Augen unbändiger Wut. Merrin kannte diesen Blick und wusste, dass er nichts Gutes bedeutete.

Und tatsächlich. Mit der blitzartigen Geschwindigkeit eines Schmetterlingssammlers, der ein Prachtexemplar erhascht, schleuderte Simon seinen Müllsack gegen die Knochen und stieß dazu eine magische Verwünschung aus. Die Knochen fielen in sich zusammen, und ein paar kullerten über den Fußboden, doch der Gesang verstummte nicht. In panischer Angst sammelte Simon die verstreuten Knochen ein und warf sie in den Sack, so wie er es Minuten zuvor noch mit dem Unrat getan hatte. Der schwarzmagische Gesang hielt an, nun gedämpft durch den Sack.

In wilder Verzweiflung warf Simon den letzten Knochen in den Sack. Dann rannte er, als ginge es um sein Leben – was es ja auch tat quer durch das Observatorium, riss die Tür zum Endlosschrank auf, schleuderte den Sack hinein, knallte die Tür wieder zu und verriegelte sie mit einem Zauber. Dann knickten, sehr zu Merrins Freude, seine Beine unter ihm ein, und er fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Merrin hatte damals den Augenblick genutzt, um die Würstchen vollends aufzuessen.

Aber jetzt sollte er diese scheußlichen Knochen wiedersehen. Und ihnen, was noch schlimmer war, den Ring abnehmen. Doch am allerschlimmsten war, dass er dazu in den Endlosschrank gehen und nach ihnen suchen musste. Davor grauste es ihn. DomDaniel höchstpersönlich hatte den Endlosschrank gebaut. Er diente der Beseitigung schwarzmagischer Gegenstände, die man nicht mehr benötigte oder die sich nicht entzaubern ließen. Der Schrank schlängelte sich tief in das Innere des Gesteins, und wenn er in Wirklichkeit auch nicht endlos war, so reichte er doch kilometerweit.

Merrin schluckte schwer. Er wusste, was er zu tun hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Zitternd murmelte er den Entriegelungszauber, griff nach dem unscheinbar aussehenden Messingknauf der Schranktür und zog daran. Die Tür ging auf. Merrin taumelte zurück. Eiskalte Luft schlug ihm entgegen, und mit ihr ein übler Gestank nach nassem Hund und faulendem Fleisch mit einer Spur verbranntem Gummi. Er würgte und spuckte angeekelt aus.

Mit einem unheilvollen Gefühl spähte er in das Dunkel. Der Schrank schien leer, doch er wusste, dass er nicht leer war. Der Endlosschrank konnte Gegenstände verschieben und beförderte diejenigen, die am stärksten magisch verseucht waren, tief in das Innere des Berges. Merrin mochte gar nicht daran denken, wie weit er wohl die Knochen fortgeschafft hatte.

Er hob die Kerze über seinen Kopf und trat hinein. Der Schrank wand sich durch das Gestein wie eine Ranke. Je weiter Merrin kam, desto kälter wurde es. Nach zehn oder zwölf Schritten begann die Kerze in der schlechten Luft zu flackern, doch er zwang sich weiterzugehen, tiefer in den Schrank hinein. Die Flamme wurde kleiner, und bald brannte sie nur noch mit einem matten roten Schein. Merrin bekam es mit der Angst zu tun. Wenn für die Flamme zu wenig Luft da war, dann war bestimmt auch für ihn zu wenig Luft da. Er verspürte eine leichte Benommenheit und vernahm ein hohes Sirren in den Ohren. Er tat noch ein paar Schritte, dann erlosch die Kerze. Einen kurzen Augenblick noch sah er ein rotes Glimmen an der Spitze des Dochts, dann war stockfinstere Nacht.

Merrin schnürte es die Brust zusammen. Er öffnete den Mund weit und wollte Luft holen, doch es war keine da. Er begriff, dass er aus dem Schrank hinausmusste, und zwar schnell. Keuchend machte er kehrt – und lief direkt in ein Gespenst hinein, das reglos hinter ihm stand. In blindem Schrecken zwängte er sich an ihm vorbei, doch da stand schon das nächste im Weg, und dahinter noch eines. Entsetzt begriff er, dass er in der Falle saß. Der lange schmale Schrank war vollgestopft mit Gespenstern, und wahrscheinlich versuchten immer noch welche hereinzukommen. Und so war es auch. Draußen drängte sich eine erregte Menge von Gespenstern, die sich gegenseitig stießen, kratzten und schlugen, weil jedes als nächstes hineinkommen wollte. Panische Angst ergriff Merrin, und dann geschah etwas Seltsames: Der Boden des Schrankes sprang zu ihm herauf und stieß gegen seinen Kopf.

Als Merrin wieder zu sich kam, lag er auf den kalten Schieferfliesen im Observatorium.

Benommen schlug er die Augen auf, und sechsundzwanzig Gespenster starrten auf ihn herab. Normalerweise genügte der Blick von sechsundzwanzig Gespenstern, um einen Menschen in tiefste Verzweiflung zu stürzen, doch Merrins Blick war noch getrübt. Er sah nur eine verschwommene wogende Masse, die ihn umgab wie eine hohe Dornenhecke.

Langsam wurde Merrin gewahr, dass etwas neben ihm auf dem Fußboden lag. Er drehte den Kopf, was ihm Schmerzen verursachte, und sein Blick fiel auf einen schmutzigen Leinensack. Einen Müllsack. Und in dem Sack bewegte sich etwas, wie ein Wurf Kätzchen.

Mit einem Mal hellwach, sprang Merrin auf, packte den Sack und stülpte ihn um. Ein Knäuel weicher, schleimiger Knochen purzelte heraus, und der kleine dicke Knochen, an dem der Ring steckte, glitt mit einem metallischen Klirren über den Boden. Merrin starrte ihn entgeistert an. Was sollte er jetzt tun? Neben seinem Fuß zuckte ein Knochen. Er schrie auf. Wie blinde Würmer ringelten sich die Knochen am Boden, jeder auf der Suche nach seinem Nachbarn. Sie setzten sich wieder zusammen!

Ein knochiger Finger stach ihn in die Rippen, und wieder schrie Merrin auf. DomDaniel stieß ihn an. Er würde steeerben! Der schwarze Index wurde ihm vor das Gesicht gehalten, und mit Erleichterung erkannte Merrin, dass der knochige Finger einem Gespenst gehörte. Gehorsam las er die Stelle, auf die der Finger des Gespenstes deutete:

Zieh den Ring mit dem Doppelgesicht
Vom Daumen dessen,
Der ihn besessen.
Doch andersrum entferne ihn,
Dann wird er dein sein fürderhin.

Merrin trat zu dem kleinen schleimigen schwarzen Knochen, an dem der doppelgesichtige Ring steckte, und blickte voller Abscheu auf ihn hinab. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um ihn aufzuheben. Eins, zwei, drei – er konnte es nicht tun. Doch, er konnte, er musste es tun. Eins ... zwei... drei... Igitt! Er hatte ihn. Der Daumenknochen war weich – wie Knorpel. Es war eklig. Er musste würgen.

Ein paar Sekunden später ergriff Merrin, mit einem schlechten Geschmack im Mund, den doppelgesichtigen Ring. Er wusste, dass er ihn über das untere Ende des Knochens abziehen musste – andersrum. Er zog. Der Ring blieb an dem breiteren Knochenwulst hängen, dort, wo einst das Gelenk war. Merrin kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Das Ding wollte nicht abgehen. Bald würde sich DomDaniel zusammengesetzt haben und Hackfleisch aus ihm machen. Mit dem Mut der Verzweiflung zückte er sein Taschenmesser, legte den Daumenknochen auf den Boden und sägte den Wulst hinten ab. Eine zähe schwarze Flüssigkeit quoll aus dem Knochen, und der doppelgesichtige Ring fiel herunter.

Mit fasziniertem Grauen hob Merrin den Ring auf und betrachtete den Reif aus Gold mit den in Jade geschnitzten boshaften Gesichtern, die in entgegengesetzte Richtungen blickten. Mit zitternden Händen zog er den Schwarzen Index zurate:

Auf den Daumen der Linken,
Den einzig richtigen,
Steck nun den Ring,
Den doppelgesichtigen.

Zitternd stülpte er sich den Ring auf den Daumen und verscheuchte jeden Gedanken daran, dass eines Tages jemand versuchen könnte, ihn andersrum von seinem Daumen zu ziehen. Zu Anfang saß der Ring locker an seinem dürren, schmutzigen Daumen mit dem abgebissenen Nagel und dem dicken Knöchel, aber nicht lange. Er spürte, wie sich das Gold immer mehr erwärmte, bis es fast unangenehm heiß wurde – und dann zog sich der Ring zusammen. Bald passte er wie angegossen, aber so blieb er nicht. Er wurde noch heißer und zog sich weiter zusammen. Der Daumen begann zu schmerzen.

Merrin geriet in Panik. Er hüpfte hin und her, schüttelte die Hand, schrie und stampfte vor Schmerz mit den Füßen. Der Ring zog sich immer enger. Die Spitze seines Daumens lief rot, dann lila und schließlich dunkelblau an. An dieser Stelle hörte Merrin auf zu schreien und sah ihn entsetzt an: Er wusste einfach, dass sein Daumen gleich platzen würde. Würde er knallen wie ein Korken, fragte er sich, oder würde er mit einem platschenden Geräusch explodieren? Er wollte es gar nicht wissen. Er schloss die Augen. Und im selben Augenblick, als er die Augen schloss, lockerte der Ring die Umklammerung, das Blut strömte zurück, und der Daumen schwoll ab. Jetzt passte der doppelgesichtige Ring, obgleich er immer noch fest saß, so fest, dass er ihn an seine Gegenwart erinnerte. Merrin wusste, dass er jetzt ihm gehörte, solange er lebte – zumindest solange sein linker Daumen lebte.

Langsam begann Merrin zu begreifen, das Schwarze Magie nicht unbedingt zum Wohle derer wirkte, die sie ausübten. Aber jetzt konnte er nicht mehr aufhören. Er saß in der Falle und musste sich an den letzten Teil des Zaubers machen – und das Schicksal eines anderen verdunkeln. Und dies musste in der Burg geschehen, denn dort lebte dieser andere, in der Spitze des Zaubererturms, wo er selbst einst gelebt hatte. Und unter demselben Namen, den er selbst einst getragen hatte: Septimus Heap.

Septimus Heap 04 - Queste
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